Editorial

Die Verwunderung der bundesdeutschen Öffentlichkeit über die große Anzahl, Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit geflüchteter Menschen in unserem Lande verwundert. Natürlich konnte man es seit langem wissen, dass sie irgendwann kommen werden und dass der Zeitpunkt mit jeder kapitalistischen Sekunde unaufhaltsam näher rückte. Ihrer Lebensgrundlagen beraubt, um ihr Leben und das Überleben ihrer Angehörigen bangend, begeben sie sich auf ihren Höllentrip gen Westen, weil wir, die BewohnerInnen dieser wohlhabenden, sich zivilisiert gebenden Länder, ihnen seit Jahrhunderten mit kapitalistischer Konsequenz ihre Lebensgrundlagen und -perspektiven rauben. Kontinuierlich vermehrten westliche Länder ihren Wohlstand, indem sie afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Staaten mittels ihrer menschen-, ressourcen- und energiefressenden Lebensweise gnadenlos ausbeuteten und mit unzähligen Kriegen destabilisierten. Zwar sprach der Westen dabei von Verantwortung, Partnerschaft und Demokratie, züchtete aber Korruption sowie Terror und zementierte Lebensbedingungen, vor denen Menschen auf Dauer nur  flüchten können.


Unsere bisherige Lebensweise in Frage stellen


Die Folgen dieser ignorant-egoistischen Lebens und Wirtschaftsweise treten nun immer deutlicher zutage. Statt uns aber einreden zu lassen, die Flüchtlingsbewegungen seien eine Bedrohung, ist es höchste Zeit, konstruktiv darüber nachzudenken, was sie über die Grundlagen unseres Wohlstands aussagen und was sie für die künftige Lebensweise der Menschen bedeuten.

 

Dabei kann es hilfreich sein, sich auf Folgendes zu verständigen:

  • Wir werden nicht alle Geflüchteten dieser Welt aufnehmen müssen, aber eine sehr große Anzahl.
  • Religionen sind nicht per se gewalttätig, lassen sich aber hervorragend zur Begründung von Gewalttaten
    instrumentalisieren.
  • Kriege sind der Terror der Wohlhabenden, sie führen zu nichts außer zu neuen Kriegen und noch  mehr Terror.
  • Waffenexporte sichern Arbeitsplätze, langfristig vor allem in der Flüchtlingsindustrie.
  • Sichere Drittstaaten werden nicht dadurch sicher, dass sie von unserer Regierung dazu erklärt werden.
  • Zu Diktaturen und korrupten Despoten sollten wir auch in schwierigen Zeiten (nicht nur verbal) hygienischen Abstand halten.
  • Eine moralisch vertretbare, humanen Mindeststandards genügende Abschottung vor Flücht lingen ist
    nicht möglich.

Bei der vorstehenden Auflistung fehlt das Entscheidende: Wir werden dieser Menschheitskrise nur gewachsen sein, wenn wir sie zum Anlass nehmen, unsere bisherige Lebensweise ergebnisoffen und konsequent in Frage zu stellen und gemeinsam mit geflüchteten Menschen darüber nachdenken, wie wir unser Leben künftig so gestalten können, dass wir alle (und auch unsere Nachkommen) ein auskömmliches, gerechtes, freiheitliches und zufriedenes Leben auf diesem Planeten führen können.


Gemeinsam auf der Suche nach den richtigen Fragen und Ansätzen


Diese Herangehensweise spielt in der öffentlichen Diskussion immer noch eine untergeordnete Rolle, obwohl sie auf der Hand liegt. Denn letztlich führen auch die zerstörerische Ausbeutung von Mensch und Natur in den westlichen Ländern sowie die in der Klimaveränderung sichtbar werdenden Folgen unserer unverantwortlichen Lebensweise zu genau dieser Schlussfolgerung. Ändern wir also endlich unsere kapitalistisch konditionierte Blickrichtung, überdenken unsere Haltungen und Gewohnheiten und zwingen uns und unsere Politiker schließlich, nicht ständig Antworten auf die falschen Fragen zu geben, sondern die entscheidenden Fragen zur Realisierung eines »guten Lebens« für alle Menschen zu finden, um sie anschließend gemeinsam bearbeiten und beantworten zu können.

 
Wie sollen wir dabei vorgehen? Schließlich wird der öffentliche Raum derzeit von der Penetranz derjenigen Menschen dominiert, die nur Antworten auf Fragen haben, die sich so schon lange nicht mehr stellen.

Zunächst einmal sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass es nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt bereits unzählige Projekte in den unterschiedlichen Lebensbereichen gibt, die sich mit diesen Fragestellungen auseinandersetzen. Spüren wir sie auf, überwinden wir Vorbehalte und Berührungsängste, kommen wir ins Gespräch, unterstützen wir sie und lassen wir uns von ihnen inspirieren. Treten wir in unserer Umgebung mit den Menschen in Kontakt, die sich in Arbeitskreisen, Bürger- und Stadtteilinitiativen den gleichen oder ähnlichen Fragen widmen und immer wieder versuchen, in ihrem Einflussbereich der nur scheinbar alternativlosen Politik Menschengemäßes entgegenzusetzen. Und: Lasst uns nicht über geflüchtete Menschen reden, sondern mit Ihnen – über uns alle und unsere zukünftige Gesellschaft. Je besser wir uns kennen, je mehr wir voneinander wissen, je solidarischer wir zusammenarbeiten, umso tragfähiger, sichtbarer und attraktiver werden unsere Fragen, Ideen und Aktivitäten.

 

Zudem ist es in Zeiten wie diesen besonders sinnvoll, in Gesprächen mit FreundInnen, KollegInnen und Bekannten freundlich, aber dennoch laut und präzise unsere Argumente vorzutragen und dabei deutlich zu machen, wie menschenfeindlich, illusionär und langfristig wirkungslos die öffentlichpropagierten Lösungen sind.

 

Wir werden unsere Art, auf Kosten von Mitmenschen, der Natur und letztlich unserer Nachkommen zu leben, drastisch ändern müssen. Noch können wir die Chance der Ankunft der vielen Flüchtlinge nutzen, um mit ihnen daran zu arbeiten, diese existentiell notwendigen Änderungen so zu gestalten, dass es uns gelingt, so etwas wie das »gute Leben« für alle zu realisieren. Angesichts des trostlosen Zustandes der Welt stattdessen voller Angst darüber nachzugrübeln, wie es für uns und unsere Kinder wohl enden wird, ist dazu keine wirklich Mut machende Alternative.


Unsere Veranstaltungsreihe


Mit unserer kleinen Veranstaltungsreihe wollen wir jenseits des unmittelbaren Tages politikgeschehens und jenseits von vorgefertigten Lösungen fragend an das Thema Flucht und dessen Bedeutung für eine zukünftige soli darische Gesellschaft herangehen. Mit vier Stationen zum Thema Flucht und Ankommen wollen wir uns mit einigen Aspekten beschäftigen, die verdeutlichen, dass wir vor einer Herausforderung stehen, der wir nur gewachsen sein werden, wenn wir sowohl unsere Mitverantwortung für sie akzeptieren als auch gemeinsam mit den zu uns  gelüchtenden Menschen daran arbeiten, sie solidarisch, kreativ und zukunftsweisend zu bewältigen.

 


Wir wünschen Auseinandersetzungen, Erkenntnisse und Inspirationen.